In Würde sterben

In Würde sterben – aber wo?

Was würde ich mir wünschen, wenn ich unheilbar krank wäre und wüsste, dass mein Tod bald bevorsteht? Wo möchte ich diesen letzten Abschnitt meiner Lebenszeit, wo ich Zuwendung und Pflege brauche wie kaum jemals zuvor, verbringen? Will ich zu Hause sterben? Oder in einem Hospiz? Oder im Krankenhaus? Habe ich überhaupt eine Wahl? Ich möchte in Würde sterben, aber wo?

Ich hoffe ja, dass ich noch viele Jahre vor mir habe. Die Welt ist so schön, da möchte ich noch so viel sehen. Und ich liebe meine Familie! Es ist so wunderbar zu sehen, wie sich meine erwachsenen Töchter weiterentwickeln. Ich darf an ihrem Leben teilhaben und wünsche mir, dass das noch ganz lange möglich ist.

Aber eines Tages, das ist gewiss, werde ich dem Tod ins Auge blicken. Hoffentlich bewusst und nicht im Koma liegend. Und hoffentlich nicht geistig verwirrt, sondern bei klarem Verstand. Wenn es einmal soweit ist, möchte ich, dass man mein Leiden lindert, so gut es geht, und dass ich mich von allen, die ich liebe, verabschieden und in Würde sterben kann.

Im Krankenhaus sterben? Lieber nicht …

„Aber bitte nicht im Krankenhaus“, sagte ich neulich abends zu meiner Freundin Anja, mit der ich mich über das Thema unterhielt. „Da rauschen Schwestern und Ärzte rein und raus, niemand hat Zeit, und wenn ich mit diesen Leuten nicht mehr Klartext reden kannst, dann behandeln sie mich wie eine Sache. ‚Der Hirntumor in Zimmer 312‘, sagen sie dann und meinen mich. Oder ich bin der kaputte Herzmuskel oder was auch immer. Noch kenne ich mich da nicht so aus.“

„Du hast ja richtige Horrorvorstellungen“, sagte Anja kopfschüttelnd. Sie arbeitet als Krankenschwester in einem Krankenhaus und macht öfter Bekanntschaft mit dem Tod, als ihr lieb ist. „Hast du noch nie was von Palliativstationen gehört?“

„Ja, schon, aber was ist der Unterschied zu einer normalen Krankenhausstation?“

„Auf den anderen Stationen sorgen wir dafür, dass die Menschen wieder gesund werden oder dass es ihnen zumindest wieder bessergeht. Auf unserer Palliativstation dagegen sind Patienten untergebracht, die unheilbar krank sind und unter akuten Beschwerden leiden. Verstehst du, es geht nicht mehr darum, sie zu heilen, sondern wir versuchen, sie so zu versorgen, dass sie nicht unnötig leiden müssen. Zum Beispiel, indem wir Atemnot und Schmerzen lindern. Es sind mehr Pflegekräfte im Einsatz, und zusätzlich kommen Psychologen, Sozialarbeiter oder auch Seelsorger ins Haus, die sich um die Patienten kümmern.“

„Trotzdem würde ich, wenn ich’s mir aussuchen kann, nicht in so einer nüchternen Atmosphäre, umgeben von lauter Fremden, sterben wollen.“

„Ach, wer will schon sterben“, sagte Anja. „Im Übrigen ist unsere Palliativstation sehr wohnlich und freundlich eingerichtet, und es geht viel ruhiger zu als in den anderen Abteilungen. Angehörige bleiben bei den Kranken so lange und so oft, wie sie es sich zeitlich erlauben können.“ Sie lächelte. „Es würde dir bei uns gefallen.“

„Danke, das hat noch Zeit“, erwiderte ich.

„Aber viele Patienten bleiben gar nicht bis zu ihrem Tod bei uns“, fuhr Anja fort, „außer wenn es ihnen rapide schlechter geht und eine Verlegung nicht mehr sinnvoll ist. Manche werden zu Hause weiterbetreut, andere im Hospiz.“

In Würde sterben – gut aufgehoben im Hospiz

Hospiz … Auch so ein Wort, das ich schon mal gehört hatte, ohne viel damit anfangen zu können. „Da du ja anscheinend die Expertin bist, hast du doch bestimmt die perfekte Erklärung für mich parat.“ Ich versuchte ein schiefes Grinsen, und gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich damit die typische Abwehrreaktion von Leuten zeigte, die das Thema Tod auf Abstand halten wollten.

Doch Anja ging auf meinen Tonfall nicht ein. „Glaub mir, ich reiße mich nicht um das Expertentum. Aber ich habe dir doch vor ein paar Wochen erzählt, dass meine Großtante gestorben ist. Sie war die letzten drei Wochen vor ihrem Tod in einem Hospiz untergebracht, und das war eine gute Entscheidung, denn sie hat sich den Umständen entsprechend dort sehr wohlgefühlt.“

„Und was genau ist ein Hospiz?“

„Ein Hospiz schließt die Lücke zwischen Krankenhaus und Pflegeheim. Im Krankenhaus können schwerkranke Patienten, die keinerlei Aussicht auf Besserung haben, nicht lange bleiben. Aber in einem normalen Pflegeheim fehlen Ausstattung und Personal, mit unheilbar Kranken umzugehen. Ein Hospiz nun ist wie ein kleines Pflegeheim organisiert, gleichzeitig aber ist es darauf eingestellt, sehr kranke Menschen bis zu ihrem Tod zu betreuen. Die obersten Prinzipien dieser Betreuung sind, neben guter Pflege, Selbstbestimmung und Lebensqualität der Betroffenen zu erhalten, und das möglichst bis zu ihrem Tod.“

Anja schwieg einen Moment und fuhr sich nachdenklich durch ihre kurzen schwarzen Haare. „Vielleicht solltest du dir mal eines anschauen. Ein Hospiz sieht von innen und außen freundlich und einladend aus, ähnlich vielleicht wie ein schönes Gästehaus. Den typischen Krankenhausbetrieb, wie du ihn dir vorstellst, mit langen, kahlen Fluren, hin und her hastendem Personal und unpersönlicher Atmosphäre, findest du dort nicht.“

Ich wollte schon sagen, nee, hat Zeit, aber dann dachte ich: Warum eigentlich nicht? Obwohl ich da schon Berührungsängste habe. Schließlich wird einem in so einer Einrichtung bewusst, wie vergänglich das eigene Leben ist. „Vielleicht schaue ich mir tatsächlich mal so ein Hospiz an“, sagte ich. „Aber mir persönlich wäre es lieber, wenn schon sterben, dann doch bitte zu Hause in Würde sterben.

Wenn schon sterben, dann am liebsten zu Hause in Würde sterben

„Das wollen sicher die meisten“, erwiderte Anja, „nur ist es nicht in jedem Fall möglich. Meine Großtante zum Beispiel lebte allein zu Hause. Sie war früher Lehrerin gewesen, hat ihren Beruf und ihre Unabhängigkeit geliebt und legte auf Mann und Kinder keinen Wert. Wer also hätte sie, als sie so schwer krank wurde, rund um die Uhr betreuen sollen? Natürlich kannst du alles Mögliche organisieren, aber ohne jemanden, der Tag und Nacht da ist, geht es nicht.“

„Stimmt“, sagte ich, „und selbst, wenn sie einen Ehemann gehabt hätte, dann wäre der vielleicht auch schon sehr betagt gewesen und dementsprechend nicht ausreichend belastbar.“ Anja nickte. „Meine Großtante war eine kluge Frau. Sie hat rechtzeitig über Alter und Krankheit nachgedacht und in einer Patientenverfügung genau festgelegt, wie und wo sie vor ihrem Tod betreut werden möchte. Meine Mutter und ich, also ihre Nichte und Großnichte, waren sehr froh darüber.“

„Bei mir wäre das anders“, überlegte ich, „schließlich habe ich zwei Kinder. Andererseits, wer weiß, wo sie leben werden, wenn es bei mir eines Tages ans Sterben geht? Meine jüngere Tochter zieht es immer nach Südamerika. Und beide werden vielleicht mit Beruf und Familie voll ausgelastet sein.“

„Da ist aber heutzutage viel möglich“, meinte Anja. „Wenn man Angehörige pflegt, kann man seine Arbeitszeit verkürzen oder sich sogar bis zu sechs Monate lang freistellen lassen. Und man kann sehr viel Hilfe bekommen. Pflegedienste sind inzwischen allgemein bekannt, aber es gibt auch noch die sogenannte ‚spezialisierte ambulante palliative Versorgung‘, kurz SAPV, da kümmert sich ein ganzes Team von dafür ausgebildeten Leuten um den Schwerkranken zu Hause. Was fällt mir noch ein? Ach ja, ambulante Hospizdienste.“

„Und was ist die richtige Entscheidung?“

„Weißt du“, sagte Anja, „bei der Entscheidung, wo ein Sterbender, um in Würde sterben zu können, seine letzten Tage oder Wochen verbringt, gibt es kein Richtig und kein Falsch, sondern nur ein Für und Wider, und das hängt ganz von der individuellen Situation des Betroffenen ab. Jedenfalls rate ich jedem, sich darüber Gedanken zu machen und all seine Wünsche in eine Patientenverfügung aufzunehmen. Du hast so was noch nicht, oder?“

„Stopp“, sagte ich, „ich glaube, mir reicht’s mit diesem Thema für heute Abend.“ Ich holte tief Luft. „Und jetzt lass uns was unternehmen, ja? Nach diesem Gespräch brauche ich das Gefühl, noch so richtig und voll und ganz am Leben zu sein.“ Anja lachte. „Wie wär’s mit unserer Kneipe von früher? Coole Musik, Rotwein und die besten Spaghetti der ganzen Stadt?“